Ulrich Schödlbauer: Homomaris oder die Geburt der Bilder [24]

Vermutlich nimmt man diese aufwühlende Funktion der Nachkriegsfotografie erst dann angemessen in den Blick, wenn man sie der unterirdischen ›Wühltätigkeit‹ der nicht, halb oder ganz verbotenen radikalen Parteien, der Geheimdienste, der propagandistischen und organisatorischen Helfer der anderen Seite gegenüberstellt. Im Aufwühlen zeigt sich die Stärke des Westens. Sie setzt die Affekte frei, die sonst zu den Antriebskräften von Veränderungen zählen könnten, die keiner will, deren Rhetorik tabu und deren Agenten gebrandmarkt sind. Künstler sind keine Maulwürfe, sie legen, Blatt für Blatt, dem Publikum vor, was sie sich ausgedacht haben. Dass ihre Bilder aufrütteln sollen, ist ein außerkünstlerisches Dekret, von Journalisten und Werbeleuten ersonnen und von Künstlern, die nach dem Markt gehen, bereitwillig angenommen. Die Manieristen weichen ihm aus, so gut sie können, ohne dass es ihnen wirklich gelänge. Als Apologeten des Ungewöhnlichen partizipieren auch sie, ohne gefragt zu sein, an der Sensations- und Schockästhetik, die Benjamin bereits bei Baudelaire aufziehen sah, ohne dass er ihre wirkliche Reichweite hätte voraussehen können. In ihrem Zeichen verbinden sich Manierismus und Surrealismus. Bis zu einem gewissen Grad werden sie dadurch auswechselbar, so dass sich Mersmann bald als Manieristen, bald als Surrealisten wahrnehmen kann. Manieristisch ist die Saturnische Bibliothek in der Fülle ihrer Verwahrzeichen – Regal, Schrank, Rolle, Schale –, in den Motivverdoppelungen, der Aura des Rätselhaften, des Magischen, einer zweiten, halb gewussten, halb vergessenen Mythologie, der Mischung ›organischer‹ und ›künstlicher‹, ›lebendiger‹ und ›toter‹ Formen. Es ist ein Manierismus à la Delvaux, Dalí, Fuchs, zu dem die metaphysische Malerei das Startzeichen gegeben hatte, ohne das Gelobte Land selbst je zu betreten. Ein Manierismus, dem der Surrealismus seine moderne Geburtsurkunde ausgestellt hat: Das Nichtgewusste ist das Vorgewusste, das ›so nicht‹ Bewusste das Unbewusste, das nie Gesehene das zu Sehende.