Ulrich Schödlbauer: Homomaris oder die Geburt der Bilder [73]

Solche bindenden Instanzen, in deren Auslegungshorizont sich alles Denken bewegt, werden in der Erkenntnistheorie ›Ideen‹ genannt. Man kann sie auch ›X‹ nennen und das für einen Fortschritt halten. Unbestreitbar ist, dass die Menschheit innerhalb sehr langer Zeiträume, bei aller Freiheit des Entwerfens, nur eine begrenzte Anzahl von ihnen entdeckt und ausgebildet hat. In diesem Sinn konnte die Wissenssoziologie einst behaupten, die Ideen seien bekannt, es gehe darum, die gesellschaftlichen Kämpfe, mittels derer sie durchgesetzt werden, als die Form zu begreifen, in der sie ›real‹ existieren. Das mag in der Praxis richtig sein, aber in der Sache bleibt es schief und sogar falsch. Denn da nirgendwo davon ausgegangen werden kann, dass Inhalt und Form an einer Stelle zur Deckung kommen, liegt es nahe anzunehmen, dass die unendlich wandelbaren Inhalte jede gesellschaftliche Form irgendwann hinter sich lassen – mit der Aussicht auf neue Kämpfe und neue Fronten, aber auch auf neue Inhalte. Die von den Konstruktivisten angestrebte Durchsichtigkeit der Entwürfe ist daher nirgendwo zu erreichen, es sei denn in dem eher formalen Sinn, der darin besteht, dass einer in der Handhabung der von ihm gewählten Mittel keinen Fehler begeht. Die Welt ist daher vielleicht nicht so dunkel, wie die gewollte Dunkelheit des magischen Obskurantismus es nahelegt, aber sie ist mit Sicherheit nicht in dem enthalten, was man den gegenwärtigen Wissensstand oder den Theoriefond einer Epoche nennt.