Ulrich Schödlbauer: Homomaris oder die Geburt der Bilder [48]

Offensichtlich falsch ist der Gedanke der Rückkehr, der suggeriert, die Kunst lasse sich in dieser historischen Stunde (1920) an eine intakte Tradition anschließen, die von den Künstlern aus unerklärlichen oder verräterischen, jedenfalls willkürlichen oder sogar bösartigen Gründen verlassen wurde. Falsch ist dieser Gedanke deshalb, weil die Tradition weder damals noch später verlassen wurde. Sie wurde durchgestrichen, das ist wahr, sie wird durch jeden Akt der Kunstproduktion, der sich gegen sie wendet, erneut durchgestrichen. Aber hinter den Werken, deren Kraft sich der Negation verdankt, durch sie hindurch glimmen die Werke der negierten Tradition. Die Negation selbst bezeugt den Umstand, dass Kunst und Handwerk nicht identisch sind. ›Tradition‹ bedeutet in der Kunst etwas anderes als im Handwerk. Wenn de Chirico vom Handwerk redet, dann redet er als Maler; wenn Mersmann von de Chirico redet, dann konstatiert er die »tragische Größe, dem Pinsel und der Farbe ein letztes furchtbares Recht einzuräumen«. So redet kein Handwerker, so redet einer, der die Welt de Chiricos zusammenbrechen sieht. In den Trümmern Chiricos heißt eines seiner Blätter, und das ist wahr: er steht vor den Bildern des späten Meisters nicht anders als vor den Trümmern barocker Architektur im zerbombten Münster. Das ›letzte furchtbare Recht‹ von Pinsel und Farbe vollzieht sich am Künstler selbst, es begleitet ihn in den Untergang. Die Minimalbestimmung einer solchen Kunst wäre, dass sie Zeugnis ablegt.

»Kultur ist tatsächlich ein zielloses Schweifen, ein Fass ohne Boden – aber die wechselnden Stile hinterlassen bedeutende Zeichen und Hinweise für den Gang in die Zukunft«

heißt es im Hagener Vortrag Was bezeugt Literatur? Mersmann fährt fort:

»Dagegen entstammt der Realismus des toten Gewissheitswahns dem untergegangenen Gestern, den Ruinen einer Vergangenheit, die in imitatione finis zwangsläufig bloß Trümmer der Zukunft beschwören. Das Leben kennt keine fixierten Gewissheiten. Selbst die Traditionen, die man ins Feld führen könnte, widersprechen diesem Gedanken nicht, denn was sie vorweisen, sind ausgesiebte Vorzüge und keineswegs altbackene Tatsachen. Tizian bestätigt im Grunde ebenso Picasso wie das Gilgamesch-Epos.«

Angesichts des toten Rennens, das sich de Chirico mit dem Zeitgeist liefert, begreift Mersmann, dass es mit dem ›technischen Gedanken‹ in der Kunst nicht weit her sein kann. Er wusste es ohnehin, sein Manierismus ist nicht der technē verpflichtet, sondern der »grüblerische[n] und kühle[n] Gestirnsbezogenheit« der Saturnischen Bibliothek.