Ulrich Schödlbauer: Homomaris oder die Geburt der Bilder [84]

DER RICHTUNGWEISENDE GRUND

»Verleugnet man das Eine, nämlich den Eintritt in ein Übermenschliches, so ist auch der richtungweisende Grund nicht zu betreten, die Richtung, mit den Bildern ins Neue hinaus zu blicken, nie zu erlangen. Das Bild, das diesen Prozess als das von Bildern kommende Leben, als die Lebensform der Bilder, nicht hervorrufen kann, bleibt nur ein Ding, eine Sache, ein die Welt der Sachen und Dinge vermehrendes blindes Objekt, mit dem man irgend etwas machen kann, bestenfalls ein Zierstück.«

Dieses Übermenschliche nennt man nach altem Brauch Konstellation. Der Stand der Gestirne bedeutet ja nicht, dass sie nicht anders stehen könnten – aber so, wie es nun einmal steht, wie die Dinge liegen, ist es zwar nicht um den Handlungsspielraum des Einzelnen geschehen, jedenfalls nicht, außer in extremis, zur Gänze, wohl aber um die Wahlfreiheit, die sich die Gegebenheiten aussucht, unter denen einer antritt, um sein Spiel zu bestreiten. Was auf der einen Seite Verhängnis oder Geschick heißt, Los oder Notwendigkeit oder Karma – je nachdem, in welchem begrifflichen Raster man sich gerade bewegt –, eröffnet auf der anderen Seite den Raum notwendiger Orientierungen, ohne den das Leben alternativlos verdämmerte. Die Bilder möglicher Welten bleiben auch immer Bilder der einen Welt, die keiner mit dem anderen teilt. Aus ihr beziehen sie ihre Spannungen, ihre Intensitäten, ihre ›sprechende Qualität‹, Eigenschaften also, die im ästhetischen Urteil angedeutet werden, das notwendig knapp bleibt, weil es eine Vergleichbarkeit dessen anbietet, was nicht verglichen werden kann und auf andere Weise stumm bliebe. Das ästhetische Urteil und das ›Karmische‹ der Existenz, diese angeblich weit auseinanderliegenden Dinge, kommunizieren miteinander, sie unterhalten einen langen Diskurs, der nicht sonderlich verschwiegen genannt werden sollte. Wie sonst wäre verständlich zu machen, dass sich ›in der Stunde der Gefahr‹ die Kunstwerke in Talismane verwandeln, deren man sich hastig bemächtigt, um für sie oder sich irgendeine Sicherheit zu gewinnen? Insofern bleibt die Verwandlung des Kunstwerks in ›ein Ding, eine Sache, ein die Welt der Sachen und Dinge vermehrendes blindes Objekt‹ eine zweischneidige Angelegenheit. Der an der Leine des kurzen Gedächtnisses der Moderne gehaltenen und der aus begründeter Furcht vor Vernichtung in Bunker und Bergwerkstollen verbrachten und von dort erneut ans Licht gezogene Kunst ist gemeinsam, dass die Verwandlung der Werke in Objekte eines blinden Gestaltungs- und Erhaltungsdrangs einer Not folgt, die keinen anderen Ausweg zulässt. Die ›irgendwie‹ modern anmutende Kunst lebt – so wie ein Talisman oder ein Amulett in den Augen seines Besitzers –, solange der Topos der verhängten Moderne intakt ist. Sie verfällt auf der Stelle, sobald seine Gültigkeit bröckelt. Dieser Moment ist längst eingetreten, das Gähnen der Auguren hinter vorgehaltener Hand eine vollendete Tatsache, die Moderne unterwegs nach neuen Modernen, während der Kitsch in ihre Alltagspositionen einrückt und Zweifel an den Richtungen sät, in die von offizieller Seite investiert wird. Die Konstellation hat sich verändert, mit ihr die Beschreibung der Welt und ihrer Verhältnisse, mit ihr die Darstellung dessen, was ist, im Tempel und auf den Marktplätzen der Vernunft, mit ihr der Inhalt der Behältnisse, in die eine Gesellschaft ihre Kultur abfüllt, mit ihr das Sichtbare und das Unsichtbare der Kultur, einer Kultur, denn auch hier ist Diversität das Gegebene.