Ulrich Schödlbauer: Homomaris oder die Geburt der Bilder [10]

Mersmann, der eine Bildhauerlehre absolviert, besitzt gute Aussichten, nichts von dem zu verwirklichen, was in ihm ansteht. Der Appell der zerstörten Städte, der zertrümmerten Monumente bindet die Kräfte. Für einen jungen Menschen ist das nicht einmal schlecht – er wird gebraucht. Es passt ins Bild, wenn man erfährt, dass der Vater zur Wahl geraten hat, zweifellos mit einem Blick auf die auskömmliche Seite des Berufs. Der Sohn selbst sieht sich als Zeichner, als Maler, als Dichter. Doch bevor er solchen Impulsen nachgeben kann, muss er diese Periode der Aneignung älterer Kunstformen durchlaufen, die von den Zeitgenossen ›Wiederaufbau‹ genannt wird und in deren Verlauf sie so manches verloren Geglaubte wieder zu sehen bekommen, um es umso sicherer zu verlieren. Der aus Ruinen, Schutt, Fotografien, Dokumenten der verschiedensten Art hervorscheinende, im Gedächtnis der Überlebenden mitanwesende, den Blicken und den alltäglichen Verrichtungen entzogene Bestand des Alten ist keine Hinterlassenschaft der Naziherrschaft, die seine Zertrümmerung billigend in Kauf nahm. Es ist eine vollkommen bewohnte, vom Nebeneinander zu sehr unterschiedlichen Zeiten entstandener und synchroner Lebensformen erfüllte, differente Vergangenheiten einbeziehende Gegenwart, die plötzlich nicht mehr besteht, obwohl die Sprache sich gegen die Aussage sträubt, dass sie als Gegenwart vergangen ist. Dieses komplexe Verhältnis, das die Rede vom kulturellen Gedächtnis, von kultureller Identität nur sehr unvollkommen beschreibt, öffnet sich im Blick des Betrachters, im Bescheidwissen, das grundlos weiß, während es ununterbrochen Gründe herbeizitiert, in den diversen Formen der Beiläufigkeit und des Beiher, in der Unzahl gefällter und zu fällender Urteile, die keine Urteile über sind, sondern in und anlässlich, wobei die Gelegenheit wechselt und das Urteil mit den Geschichten schwankt, denen es sich verbindet und mit denen es verbunden bleibt. In Mauern groß geworden, zwischen ihnen gelebt zu haben, bleibt auch dann wichtig, wenn man sie verlässt, um sich anderswo niederzulassen. Es ist nicht recht, wenn sie es sind, die einen verlassen. Das gilt für den alltäglichen Abriss, umso mehr für die von brennenden oder diffusen Erinnerungen an die in oder aus ihnen verschwundenen Menschen durchzogene Landschaft der Vernichtung. Wieviel mehr? Die Nachgeborenen werden es nicht erfahren, sie können sich ihren Teil denken, doch sie werden es nicht und wollen es vielleicht auch nicht wissen. Das Wort Trauma deckt vieles zu, was nur im Modus der Ungenauigkeit aufbewahrt werden soll.